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Die türkeistämmigen religiösen Gemeinden in Deutschland (*)

Besim Tokgöz

In der Gesetzgebung Deutschlands wird zwischen Gemeinde und Verein nicht unterschieden. Nach Artikel 140 des gegenwärtig geltenden Grundgesetzes und Artikel 137 der Verfassung der Weimarer Republik, unterliegen „die Rechte von Religionsgemeinschaften den allgemeinen Rechtsanordnungen des bürgerlichen Rechtes“.

Eine chronische Krankheit der bürgerlichen Bürokratie ist es, die eigenen Staatsbürger in ihrer kulturellen Zugehörigkeit zu ihrem Land, über eine Religion oder eine ethnische Herkunft zu definieren, um zu gruppieren. Die in Deutschland lebenden Menschen über ihre ethnische oder religiöse Identität, anstatt über das Bürgerrecht zu definieren, bringt sicherlich so einige politische Vorteile hervor. Wenn eine Gesellschaft also über eine „christliche“ Mehrheit definiert wird, kann es nicht überraschen, dass Migrant/innen aus der Türkei unter der Rubrik „Muslime“ zusammengefasst werden.

Vereinfachen, Gruppieren, Ansprechen

Trotz all der Vereinfachungen, der Gruppierungen fehlt immer irgendwo ein dritter und endgültiger Schritt! Wer diese vereinfachten, religiösen Gruppen gegenüber dem deutschen Staat vertritt und wie dies geregelt werden soll, ist noch heute nicht klar!

Seit 2006 versucht die Regierung, eine Möglichkeit zu schaffen, damit der Islam, der angeblich die zweitstärkste religiöse Gruppe in Deutschland ausmacht, eine politische Vertretungsmöglichkeit findet. Hierzu wurde die Deutsche Islamkonferenz (DIK) ins Leben gerufen. Die Gründung der DIK war die Idee von Wolfgang Schäuble, der einer der gewichtigsten Figuren in der CDU ist. Doch seit 12 Jahren wird vergeblich nach einer „Vertretung“ des Islams in Deutschland gesucht.

In einem Vorwort zu der von Thomas Lemmen für die sozialdemokratische Friedrich Ebert Stiftung durchgeführte Studie mit dem Titel „Die islamischen Organisationen in Deutschland“ (2000), betonen Günther Schultze (Referent im Arbeitsbereich „Migration und Integration“) und Ursula Mehrländer (Leiterin der Abteilung für Wirtschafts- und Sozialpolitik), dass „die Frage, die immer noch nicht beantwortet wurde, ist, wer die Vertretungsrechte für alle Muslime juristisch inne haben kann“. Hiermit definieren sie das Problem ganz genau.

Vertretung meint nur die einfachere Führung

Diese Position legt somit eine nicht säkulare Grundannahme als Ausgangspunkt fest, um alle als Arbeitskraft aus der Türkei eingewanderten Migranten als „Muslime“ zu kategorisieren und verfehlt dabei die eigentlich zu beantwortende Frage. Die Aufklärung, die als ein Kampf gegen den Einfluss der Religion im gesellschaftlichen Leben verstanden werden kann, und der Laizismus als ein politischer Grundsatz davon, erfordert jedoch zunächst die Trennung von Bürger- und Gemeinderecht. Es sollte nicht überraschen, dass diejenigen, die sich als Christ bezeichnen, alle anderen nur als Muslime oder Juden sehen… 

Es ist einfacher religiöse Gemeinschaften zu führen. Eindeutig ist auch, dass eine Individualität, die der eigenen gesellschaftlichen Stellung bewusst ist, einem Scheich oder einem dahergekommenen „Führer“ nicht blind folgt. Wer jemanden kontrollieren möchte, der sich dem Willen seiner Gemeinschaft unterwirft, braucht nur das Oberhaupt der Gemeinschaft zu kontrollieren. Am Beispiel von Deutschland wird sichtbar, welche Formen die Politik der Bourgeoisie inzwischen annimmt und dass unter „Vertretung“ das „Führen“ verstanden wird.

Die Geschichte des Islams in Deutschland, reicht bis zur Belagerung von Wien zurück. Wenn wir aber die Geschichte von islamischen Organisationen näher betrachten möchten und das sollte das eigentliche Vorhaben ausmachen, so müssen wir die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts unter die Lupe nehmen. Und konkreter die Zeit ab 1973, da erst ab Anwerbestopp die Migrant/innen aus der Türkei sich in Deutschland niederließen und somit auch anfingen sich zu organisieren. Der Übergang vom Gläubig sein zum religiösen- und politischen Reaktionismus war nicht schwierig. Sowohl die politischen Parteien der Türkei, als auch der türkische Staat und die deutschen Regierungen, förderten in jeder Form die Verbreitung von reaktionären Ideologien unter den Arbeitern.

Der deutsche Staat, der religiöse, reaktionäre Gemeinschaften nach dem „Vereinsrecht“ kontrolliert, förderte damit einerseits die Ver- und Ausbreitung dieser und verschaffte sich in gleichem Maße Kontrollmechanismen. Abgesehen von einigen ambitionierten Auftrittsmomenten Tayyip Erdogans, tut der deutsche Staat dies immer noch.

Deutschland, das

Schlaraffenland der Sekten

Bis zur großen Flüchtlingswelle im Jahr 2015, war Deutschland das Schlaraffenland der islamistischen Bewegungen. Bis zum kontrollierten Terror der US-patentierten IS und zum Versuch Erdogans, die in Deutschland lebenden Menschen aus der Türkei zu instrumentalisieren, war Deutschland ein Paradies für alle reaktionären Organisationen.

Für unzählige Sekten angefangen von den Ahmadiyya bis zu den Süleymancılar; von Sheikh Nazim Adil Al-Haqqani bis zu der Föderation der Türkisch-Demokratischen Idealisten-Vereine in Europa e.V. (ADÜTDF); der Union der Türkisch-Islamischen Kulturvereine in Europa e.V. (ATIB), als Dachverband mit fast 500 Mitgliedsvereinen; der DITIB, die unter der Federführung des Ministeriums für Religion der Türkei über 900 Moscheen zählt; der Parteiorganisation ´Verband der türkische Kulturvereine´ in Europa (ATB) der Partei der Großen Einheit (BBP); der Union der Islamisch-Albanischen Zentren in Deutschland (UIAZID); der Islamischen Gemeinschaft der Bosniaken in Deutschland (IGBD) ist Deutschland wahrlich ein Sekten-Paradies.

Ach ja, selbstverständlich sind diese alle lautes Gesetz nur „zivilgesellschaftliche“ Organisationen und unterliegen dem Vereinsrecht nach der BGB!

Kann eine Sekte eine Organisation

der Zivilgesellschaft sein?

Abgesehen vom Jargon des Kalten Kriegs, in dem demokratische Massenkultur durch „Zivilgesellschaft“ ersetzt und neu strukturiert wurde, stellt sich die Frage, ob laut Vereinsrecht im BGB, religiöse Organisationsformen als zivilgesellschaftlich definiert werden können?

Jedwede akademische Arbeit betrügen regelrecht, wenn sie diese Organisationen, in denen Unterwerfung ein Grundsatz ist, die fern von allgemein menschlichen Werten sind und die alles Fortschrittliche als eine Bedrohung betrachten als zivilgesellschaftliche Organisationen beschrieben. Frauenfeindliche Sekten als Teil zivilgesellschaftlichen Lebens dem Vereinsrecht zu unterstellen, ist ebenso betrügerisch.

Die werktätigen Migranten: Treuetest oder Bauernopfer 

Der Versuch über 2500 Moscheen und islamische Kultur Zentren, die Migrant/innen zu kontrollieren, kippte ab dem Moment, als diese Organisationen DITIB ähnliche Formen annahmen, weil sie beispielsweise von der Türkei aus, geführt wurden. Dies löste Unbehagen im deutschen Staat aus. Auch wenn, nach gegenseitiger Erpressung und Druck es hieß „im Verhältnis zwischen den Ländern entsteht wieder Vertrauen“, kann es nur Palaver sein, denn die Spannung zwischen den Ländern besteht weiter. 

Aber von welcher Spannung ist hier die Rede? 

Für ein Einwanderungsland ist der Treuetest, den werktätige Migranten zu bestehen haben, die einwandfreieste Anpassung an die kapitalistischen Ausbeutungsmechanismen und für das Auswanderungsland und ihre islamistische Regierungspartei AKP gilt es, diese Menschen als Handlanger für ihre Erpressungsversuche zu instrumentalisieren. Das ist die Quelle der Spannungen.

Der deutsche Imperialismus mischte sich über die Milli Görüş in die türkische Politik ein. Die 1976 in Köln gegründete Islamische Gemeinschaft Milli Görüş e.V. (IGMG) übernahm die Schlüsselfunktion bei der Verbreitung der antikommunistischen Bewegung unter den türkeistämmigen Migranten. Milli Görüş, die aus kleinen in „Hinterhöfen“ gegründeten Läden eine Halal-Industrie schaffte, hatte in der Politik der Türkei, durch die Unterstützung und Finanzierung des Phänomens Necmettin Erbakan, eine beachtliche Position inne.

Deutschland wurde 1984 auch zum Schauplatz des Auftritts vom „Kalif von Köln“, einem Irren Namens Cemalettin Kaplan, der durch „zivilgesellschaftliche“ Rechte sich einen Machtraum schaffte und in seinem Wahn, sich zum Kalifen ernannte. Auch der Mord an seinem Konkurrenten, dem reaktionären Ibrahim Sofa im Jahre 1997 ereignete sich in Deutschland.

Noch wurde nichts zu den Betrügereien rund um die Spendenaffäre „Deniz Feneri“, die zu Zeiten der AKP stattfanden, rausgegeben. Die gegenseitigen bombastischen Reden von „Freundschaft“ der reaktionären Politiker beider Länder, finden keine Bedeutung.

Die eigentliche Quelle des Reaktionismus ist

die kapitalistische Ordnung

Das Kapital, dass versucht die wirkliche Brüderlichkeit, also die Brüderlichkeit der Werktätigen dieser Welt zu verhindern und die Religiosität fördert, ist die eigentliche Quelle des politischen Reaktionismus. Die religiösen Organisationen als Hauptlager reaktionärer Ideologien, können nur unter den Fittichen des Kapitals und der großzügigen kapitalistischen Regierungen weiterexistieren. Der deutsche Kapitalismus, der sich über die reaktionäre Politik der AKP ärgert, sollte dies auch für die eigene Politik tun, die den Reaktionismus zu eigenen Zwecken schütz und verschont.   

Warum werden die heutigen Ordnungsparteien Deutschlands, überhaupt so griesgrämig, wenn es um den Laizismus geht? Weil die Diktatur des Kapitals ohne das dogmatische der Religion und ihre Träger, die Ausbeutung der Werktätigen nicht aufrechterhalten kann. Diese Tatsache gilt für die neoliberal islamistische Türkei und mindestens gleicherweise auch für die Ordnung in Deutschland, die sich als „von christlichen Werten getragen“ beschreibt. ■

Aus der Zeitschrift „Boyun Eğme-Almanya“, Ausgabe: März 2018 , Seiten: 18-19

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